Unsere Arbeitsgruppe ‹Verletzlichkeit als Ressource› bildete sich im Rahmen des World Goetheanum Forums im Jahr 2020. Seit dem forschen wir miteinander an der Frage:
Damit ich mich in Richtung eines schöneren, liebevolleren Ausdrucks meines Mensch-Seins entwickeln kann, wünsche ich mir Räume, in denen ich für all meine bunten Seinsqualitäten und Ausdrucksformen einen förderlichen Entfaltungsraum finden kann. Räume, in denen ich «mit Körper, Geist und Seele» – und eben auch mit deren Kerben, Rissen und Macken – vorkommen kann. Räume, in denen ich mich an meinen seelischen, körperlichen und geistigen Baustellen weiterentwickeln darf – ohne etwas wegzudrücken, zurückzuhalten, zu verstecken oder gar abzuspalten. Weiterentwicklung braucht Heilung von Verwundung. Und die kann da geschehen, wo ich mit meiner Verletzlichkeit, mit meinem Mitgebrachten und Geworden-Sein, in einer für mich stimmigen Tiefe vorkommen darf.
Wie können wir einen neuen Umgang mit der ur-menschlichen Verletzlichkeit lernen, der gleichsam verantwortungsvoll und förderlich für das Individuum und das Miteinander ist?
Für mich ist Verletzlichkeit, auch wenn ich sie über die Jahre sicher bei anderen Namen genannt hab, der Weg, der Kern, das Ziel, mir und der Welt näher zu kommen; um berührbarer, ehrlicher, authentischer, emphatischer, fähiger zu werden in einer Welt, die uns durch ihre Härte und Polarität genau das lehren will: verletzlich, weich, empfänglich, liebevoll zu werden. Für mich ist Verletzlichkeit die Revolution, das Wichtigste, was wir heute als Mensch nur tun können, das, was wirklich Friede, Verbundenheit und Schönheit bringen kann.
Verletzlichkeit bedeutet für mich, in mich hineinzuschauen, wahrzunehmen was ist und dann mutig genug zu sein, es auszudrücken. Besonders wenn es außerhalb der Norm ist. Dadurch kann ich immer wieder erleben, welche tiefen und authentischen Verbindungen zwischen Menschen möglich werden, wenn wir zeigen, wer wir wirklich sind.
Wenn wir uns um Verletzlichkeit kümmern, dann kümmern wir uns zutiefst um unser Menschsein, weil Verletzlichkeit uns immer in Kontakt mit uns selbst bringt. Wenn wir es schaffen, dem Schmerz konstruktiv und aktiv durch einen inneren und äußeren Prozess zu begegnen, dann kommen wir zu dem Kern, wer wir wirklich sind, und etwas wirklich Neues kann passieren. So können wir alte Muster auflösen und schaffen letztendlich Frieden in uns und zwischen uns Menschen.
Schon früh lernte ich, mein wahres Selbst zu verstecken, mich anzupassen und vor allem meine Verletzlichkeit zu verbergen. Spätestens ab der Pubertät wusste ich, wie viel und was ich von mir zeigen darf. Durch echte vertrauensvolle Freundschaften nach der Schulzeit lernte ich mehr und mehr von meinem wahren Selbst zu offenbaren.
Bei einer Tagung am Goetheanum 2014 kam es zu einem heftigen Einschnitt. Nicanor Perlas sprach von der „Persona“, der Maske, die wir alle tragen. Er sagte, wenn wir wirklich etwas verändern wollen in der Welt, müssen wir diese Maske abnehmen.
Das war der Wake-up-Call und seither begleitet mich das Thema intensiv.
Ich sehe großes Transformations-Potenzial, da wir mit diesen Prozessen wirklich bei uns selbst beginnen müssen, lernen wahrhaftig mit uns selbst und den Mitmenschen zu werden und ein sensibles Sinnesorgan im Sozialen und Mut zu entwickeln.
In frühen Jahren durch das Buch Die Wunde der Ungeliebten des Schweizer Psychoanalytikers Peter Schellenbaum inspiriert, wuchs in mir die Erkenntnis, dass Verletzungen auch innere Reifungsprozesse ermöglichen. So weitet mir die Wunde den Blick nicht nur auf das gelebte und erlebte Leben, sondern auch auf die Abweichung von meinem Lebensentwurf. In den Worten von Viktor von Weizäcker: Wir werden krank (verletzlich), weil wir das uns gemäße, uns bestimmte, uns meinende Leben nicht leben. So werden aus zukünftigen, unvermeidbaren Verletzungen Orte, an denen wir wieder mit unserem individuellen Daseinsentwurf in Kontakt treten können. Verletzlichkeit kann somit in der Begegnung von Menschen ein kostbarer Schlüssel sein, den Raum für die auf den ersten Blick verborgene Ressource – ich nenne es Quiet Resource –, nicht nur in mir, sondern auch in dem anderen zu öffnen.
Andrea wurde in Rom geboren. Er arbeitete als Sozialbankier insg. 14 Jahre bei der alternativen Bank GLS Gemeinschaftsbank und der GLS Treuhand in Bochum. Daraufhin wurde er 2010 Treuhänder der Neuguss Holding in Berlin, die Unternehmer/innen bei der Unternehmens- Nachfolgeplanung unterstützt, inspiriert von der Idee des Verantwortungseigentums. Heute begleitet er neben der Neuguss diverse Initiativen wie die Stiftung Evidenz in Basel oder die Sozialwissenschaftliche Sektion am Goetheanum. Seit 2020 ist dabei seine Hauptaufgabe der weitere Aufbau der World Goetheanum Association. In diesem Netzwerk von nachhaltig und sozial ausgerichteten Unternehmen und Einrichtungen, hat die Arbeit der Verletzlichkeits-Gruppe begonnen. „Für mich ist es entscheidend für das soziale Miteinander, aber auch für die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft, Wege zu erproben oder Methoden zu entwickeln, in gesunder Weise die eigene Verletzlichkeit zeigen zu können, weil dadurch eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten entstehen können, Herausforderungen gemeinsam anzugehen.
Ich erlebe oft, dass viele Dinge, die uns verletzlich machen, schwierige, aber auch wertvolle Tore für persönliche und soziale Transformation sind. Nachdem ich viele Jahre in Notsituationen gearbeitet und Kunst und Kreativität als Werkzeuge zur Transformation genutzt habe, wurde mir klar, dass künstlerische Prozesse und Verletzlichkeit eng miteinander verbunden sind. Sie teilen die fragile und oft auch sehr unangenehme Dynamik der Öffnung zum Neuen und Unbekannten. Mein Eindruck ist, wenn wir nicht lernen, Verletzlichkeit in unserem Privat- und Berufsleben auf sinnvolle Weise zu integrieren, geht etwas Wesentliches verloren – irgendwie eine Art, das Lebendige zu verstehen.
Seit etwa 10 Jahren gibt es (u.A. inspiriert durch das Buch „Reinventing Organizations“ des integralen Philosophen und Organisationsentwicklers Frederix Laloux) eine neue Szene von Nachhaltigkeits- und Organisationsberatern, deren Anliegen es ist, die Art wie wir zusammenarbeiten neu zu gestalten, indem Unternehmen sich „ganzheitlich nachhaltig“ ausrichten, um statt der Profitmaximierung wieder Mensch und Erde zu dienen. Sie begleiten Organisationen dabei, Eigentumsstrukturen zu verändern, Hierarchien aufzulösen, und zu sozialen Organismen zu werden, in denen Mitarbeitende nicht nur als Leistungsbringer in professionellen Rollen, sondern als authentische Menschenwesen als Ganzes (mit allen Gefühlen, Bedürfnissen usw.) einen Platz finden.
Unter den Mitgliedern der World Goetheanum Association sind mehrere Berater:innen, Pädagog:innen und Unternehmer:innen, die als Pioniere und Wegbereiter auf diesem Gebiet unterwegs sind. Aus diversen Dialogen und Arbeitsgruppen im Rahmen der WGA entstand der Impuls im Rahmen des Forums im September 2020 einen „Runden Tisch“ zur Frage „Wie gehen wir mit Verletzlichkeit im Arbeitsalltag um?“ mit anthroposophischen Unternehmer*innen und Mitarbeitenden zu veranstalten.
In diesem Workshop ermutigte unser AG-Mitglied Benjamin Brockhaus die Teilnehmenden dazu, sich auf den adhoc-Versuch einzulassen, miteinander über reale Verletzungen aus ihrem Privat- und Berufsleben zu sprechen- um eine unmittelbare Erfahrung mit einer gefühlsoffenen Kultur machen zu können.
So entstand eine sehr spannende Situation: Dankbar für den Raum (und überaus mutig) zeigten zwei Frauen ihre seelischen Verletzungen, die durch jahrelange Frustration im Zwischenmenschlichen mit Vorgesetzten entstanden waren. Es war ihnen ein Anliegen sich zu zeigen – hoffnungserfüllt von der Sehnsucht nach Veränderung – und ihren Schmerz zu teilen. Die warmherzige Empathie einiger Menschen aus der Runde ermutigte sie zum freien Aussprechen – und Offenbaren der eigenen Verwundung - es flossen Tränender Erleichterung. Und es fühlte sich heilsam an. Die Hoffnung auf ein Loslassen und Ankommen nach der Zeit der Anspannung und Suche nach deren Ausdruck war spürbar im Raum.
Doch andere Teilnehmer der Gruppe waren nicht Willens oder in der Lage, die intellektuell-analytische Ebene der theoretischen Diskussion der Frage „Wie gehen wir mit Verletzlichkeit im Arbeitsalltag um?“ zu verlassen. Zwei Lager bildeten sich in der Workshop-Gruppe:
Die kulturelle Disparität zeigte sich, als ein anwesender Geschäftsführer eines Unternehmens sinngemäß etwas sagte wie: „Ich bin doch nicht hier, um mir eure Gefühlsduselei anzuhören!“.
Irritiert schluckten die beiden Frauen ihre Tränen herunter – die Diskrepanz der Herangehensweise und des Interesses war offenbar zu groß.
An dieser Situation wurde uns die Brisanz und das Potential des Themas deutlich. Ist es denkbar „Verletzlichkeit als Ressource“ zu begreifen und sollten wir diese Frage nicht in einer Arbeitsgruppe untersuchen? Wir entschieden, eine solche Arbeitsgruppe zu gründen, die die Aufgabe hätte, Methoden, Ansätze und Wissen zusammenzutragen, das uns dabei helfen kann , einen neuen Umgang mit unserer ur-menschlichen Verletzlichkeit zu entdecken und zu vermitteln.
Zu diesem Zweck wurden in der Folge bereits mehrere interne Workshops und Erfahrungsräume eröffnet und Personalverantwortliche von Mitgliedsorganisationen der World Goetheanum Association einbezogen.
Diese Website präsentiert die ersten Ergebnisse unserer Zusammenarbeit.
Dieses Projekt der World Goetheanum Association trägt sich durch Stiftungszuwendungen sowie Spenden.
Für Ihre Spenden und Beiträge sind wir dankbar.
Spendenbescheinigungen und Rechnungen stellen wir auf Anfrage gerne aus.
Schweiz
Stiftung Evidenz
IBAN: CH16 0839 2000 0315 6330 9
Freie Gemeinschaftsbank Basel
BIC: FRGGCHB1
Zweck: WGA Projekt Verletzlichkeit
Deutschland
Förderstiftung Anthroposophie
IBAN: DE49 4306 0967 7001 0343 00
GLS Gemeinschaftsbank eG
BIC: GENODEM1GLS
Zweck: WGA Projekt Verletzlichkeit
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